Home > Sozial > Digital Natives werden überschätzt – vor allem von sich selbst

(Quelle: DariuszSankowski / pixabay)

Die Digitalisierung dringt in immer mehr Sphären des alltäglichen Lebens ein. Stetig vergrößert sich der Einfluss digitaler Technologien in beinahe allen Bereichen. Der jungen Generation wird dabei häufig nachgesagt, dass sie dieser Entwicklung mit Leichtigkeit begegnet und als sogenannte Digital Natives, als „digitale Eingeborene“, nichts anderes gewohnt sei. Doch diese Annahme ist ein Trugschluss, wie eine Studie des Zentrums für ökonomische Bildung in Siegen (ZöBiS) zeigt. 

Die vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz geförderte Arbeit zur „Verbraucherkompetenz von Schülerinnen und Schülern in digital wirtschaftlich vernetzten Situationen“ untersucht unter anderem, wie Jugendliche mit den Anforderungen der neuen digitalisierten Verbraucherwelt zurechtkommen. 

Das Digitalisierungstempo unserer Zeit fordert auch den Finanzsektor zunehmend heraus: Die Commerzbank investierte beispielsweise allein bis 2016 rund 220 Mio. Euro in den Ausbau digitaler Angebote. Auf Konsumentenseite treffen immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher einen wachsenden Teil ihrer ökonomischen Entscheidungen in virtuellen Räumen. Was mithilfe digitaler Technik heute schon alles im Bereich des Möglichen liegt, zeigt beispielhaft das Hamburger Fintech-Unternehmen Kreditech, das Informationen aus sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und Xing sowie persönliche Standortdaten in die Beurteilung der Kreditwürdigkeit von potentiellen Kreditnehmern einbezieht. Das zeigt sehr deutlich: Verbraucherkompetenz in einer digitalisierten Welt umfasst heute vor allem auch die Fähigkeit, die persönliche und ökonomische Tragweite anfallender Daten zu begreifen. Die Verbraucher müssen dabei nachvollziehen können, wann relevante Daten „entstehen“ und dass der Aussagewert dieser Daten aufgrund der digitalen Spuren, die sie im Netz hinterlassen, als handelbares Gut zu betrachten ist.

Schülerinnen und Schüler als „digitale Eingeborene“

Angesichts der zunehmenden Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten in den technisch-digitalen Raum wächst die Zahl entsprechender Entscheidungssituationen, die die Verbraucherinnen und Verbraucher sowohl technisch als auch ökonomisch bewältigen müssen. Denkbar gute Voraussetzungen, damit umgehen zu können und im digitalen Wandel zu bestehen, so eine häufig anzutreffende Meinung, haben die sogenannten Digital Natives, zu denen nach Palfrey und Gasser im Grunde alle nach 1980 geborenen Menschen gezählt werden können – also auch die heutigen Schülerinnen und Schüler. Zweifellos ist für sie das Internet „immer“ schon dagewesen, technische Neuerungen und Digitalisierung sind für sie keine neuen Phänomene, sondern Alltag. Doch ihnen aufgrund ihrer digitalen Sozialisation pauschal eine hohe Kompetenz bei wirtschaftlichen Entscheidungen in digitalen Kanälen zu unterstellen, wäre verfehlt. 

Das belegt auch die ZöBiS-Studie. Darin wurden 149 Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen allgemeinbildenden Schulen in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz anhand von Filmsequenzen mit digital geprägten Situationen konfrontiert, um anschließend sowohl ihr Wissen im Bereich der Digitalisierung als auch ihre ökonomisch-digitalen Handlungsfähigkeiten zu messen.

So beinhaltete ein Testszenario beispielsweise Handlungen, die in einem Smarthouse vollzogen werden können. Dabei sollen sich die Probanden in eine Situation hineinversetzen, in der sämtliche Alltagshandlungen wie das Herauf- und Herunterlassen der Rollläden, das Öffnen und Schließen der Haustür und Fenster oder das Regulieren der Heizung digital steuerbar sind.

Ein zweites Szenario befasste sich mit gesundheitsrelevanten Daten, die über eine App, eine Smartwatch oder ein Tablet automatisiert an Versicherungen und Ärzte weitergegeben werden. In einzelnen Schritten werden die Datenströme, der Zugriff von Dritten auf persönliche Daten sowie der persönliche und ökonomische Mehrwert des Besitzes eines Smarthouse bzw. Gesundheitsarmbands (bspw. Bonusprogramm bei den Krankenkassen, Rückzahlung von Beiträgen etc.) erhoben und durch die Schülerinnen und Schüler bewertet.

Fatale Selbstüberschätzung

Die deutliche Mehrheit der Schülerinnen und Schüler schätzt sich selbst als kompetent ein. Mit 97 Prozent geben beinahe alle Befragten an, dass sie sich in technisch-ökonomischen Situationen auskennen, sich zurechtfinden und mit den digitalen Strukturen, die notwendig sind, um ökonomische Entscheidungen im Netz zu treffen, umgehen können. Die Studie zeigt aber, dass zwischen der Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und den tatsächlich getroffenen Entscheidungen eine deutliche Diskrepanz besteht. Im Durchschnitt entschieden sich die Schülerinnen und Schüler nur in 59 Prozent der ökonomisch-digitalen Kontexte richtig.

Technikaversen Schülerinnen und Schülern fällt es dabei deutlich schwerer, sich in dem vorgegebenen ökonomischen Kontext richtig zu entscheiden. Ihnen ist vielfach nicht bewusst, wann relevante Daten entstehen, weitergegeben werden und wozu Unternehmen diese Daten verwenden können oder welche Konsequenzen eine Datenfreigabe hat.

Die neuen Möglichkeiten der Datenweitergabe und Datenverarbeitung sind in ihrer Komplexität somit auch bei vielen sogenannten Digital Natives noch nicht angekommen. Sowohl die eigene Kompetenz- als auch die gesellschaftlich zugewiesene Kompetenzeinschätzung sollten vor diesem Hintergrund kritisch hinterfragt werden. Die neuen Möglichkeiten der Datenweitergabe und Datenverarbeitung sollten im Schulunterricht stärker behandelt werden und zu einem neuen, kritischen Reflexionsniveau führen. 

Die vollständige Studie sowie alle Literaturangaben zum Download erhalten Sie hier.

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